Ich kann nicht singen

Kennst du das? Die Vorstellung, dass du etwas nicht kannst ohne dass du es je wirklich versucht hast? Durch solche Muster schränken wir uns ein und verhindern, dass wir neue Erfahrungen machen und uns weiter entwickeln können. Han Shan beschreibt in seinem Buch „Achtsamkeit: Die höchste Form des Selbstmanagements“ (Kapitel 2) das Funktionieren des Verstands. Aus allem, was wir wahrnehmen (und interpretieren, bewerten) zimmert er ein Gedankengebäude, das wir für unsere Wirklichkeit halten. In dieses Raster presst er unsere ganze Persönlichkeit und damit verbauen wir uns die Möglichkeit uns abseits der ausgetretenen Pfade zu bewegen.

Mir ist da gerade in den Sinn gekommen, wie mir das mit dem Singen ergangen ist. Wie für so viele war für mich klar, dass ich nicht singen kann. Woher ich das „wusste“? Ich erinnere mich an ziemlich missglückte Versuche in der Schule vorzusingen, wobei da vermutlich die Unsicherheit und Nervosität dazu geführt hat, dass es eher ein Krächzen denn ein Singen war. Ich erinnere mich, dass es zu Hause hiess, wir könnten halt nicht singen (der Vater konnte aber angeblich, obwohl ich ihn nie habe singen hören). Ich war mal an der Jazz-Schule und habe einen Theoriekurs besucht, bei dem wir ab Blatt singen mussten. Na ja, das ging so halbwegs, aber eine Freude war es nicht. Und zwei-drei Mal habe ich damals in unserer Band im Chor mitgesungen (mitgegrölt) und ein einziges Mal bei „Here today gone tomorrow“ von den Ramones einen Part bei einem Konzert übernommen. Ach ja, und unzählige Male habe ich Gutenachtlieder gesungen. Das war über Jahre ein Ritual mit unseren Kindern, und sie haben sich eigentlich nie beschwert. Und trotzdem: ich war überzeugt, ich könne nicht singen. Und deshalb habe ich es nie wirklich versucht.

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See beim Sunniggrätli ob Intschi, Kt. Uri

Letzte Woche war ich an einem Geburtstagsfest eingeladen. Da war eine wunderbare Sängerin, die Soul und andere Klassiker mit Begleitung ab CD vortrug. Ich habe schon am Rande wahrgenommen, dass auch Gäste zum Mikrofon griffen und mitgesungen haben oder zumindest so taten – Luftmikrofon, sozusagen. Irgendwann gab es eine Pause und die Sängerin suchte jemanden, der bei Bob Marley „No woman, no cry“ mitsingen wollte. Niemand meldet sich. Da ruft meine Partnerin meinen Namen. Bald tönt es „Ruedi! Ruedi!“ durch den Raum. Ich bin zunächst ziemlich überrumpelt. Kurz flackert der Gedanke auf, ich kann doch gar nicht singen. Doch mittlerweile weiss ich, dass ich es eigentlich kann, jedenfalls ganz ordentlich (mehr dazu folgt gleich). Also stehe ich auf, nehme das Mikrofon und habe dann ziemlich Spass im Duett mit der Sängerin. Zuerst klingt es ungewohnt und komisch durchs Mikrofon, bald fühle ich mich sicherer und kann es ganz gut geniessen. Das hat eine Vorgeschichte, und wegen dieser weiss meine Partnerin, dass ich eigentlich gerne singe und es auch kann. Aber selbst melden würde ich mich in dieser Situation nicht…

Vor etwa vier Jahren haben mich Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz gefragt, ob ich nicht im Chor mitsingen möchte. Es gibt an der Hochschule einen Chor von Mitarbeitenden und (einzelnen) Studierenden, der an internen Anlässen auftritt. Und es war ein Nachfolger für einen in den Ruhestand getretenen Kollegen gesucht. Die ersten Male antwortete ich auf die Anfragen meiner Kolleginnen und Kollegen wie gewohnt: Ich kann nicht singen. Aber als die einfach nicht lockerliessen, sagte ich zu, um es mal zu probieren. Ich wollte für mich herausfinden, ob meine Vorstellung stimmt oder ob da ein Potential schlummert, das geweckt werden möchte. Ob mir mein Verstand da etwas einflüstert, das mich einschränkt. Ich bin also an eine erste Probe mitgegangen – und war im Prinzip ziemlich überfordert. Zunächst fragte mich der Chorleiter, welche Stimmlage ich sei. Öh, weiss nicht… Ich habe früher Bassgitarre gespielt, vielleicht passt das zum Bass? Ich habe eigentlich nicht das Gefühl, eine genügend tiefe Stimme zu haben, aber mit den Höhen habe ich es auch nicht so. Ich versuchte also mal Bass. Nur kann ich trotz Bassgitarre den Bassschlüssel bei den Noten nicht wirklich lesen. Und schon ging es los mit dem ersten Lied, das Notenblatt in der Hand. Nach der erste Stunde dachte ich, das kann ja heiter werden. Aber schon in der zweiten fühlte ich mich viel wohler. Ich war überrascht, wie leicht es fällt in einem Chor mitzusingen. Mein Rhythmusgefühl von der Bassgitarre und auch die Erfahrung als Bass zu begleiten, kamen mir entgegen. Andere waren in der Tonlage sicherer, ich dafür im Timing. Und schon bald konnte ich mich auf die Übungsstunden mit unserem geduldigen und einfühlsamen Chorleiter freuen. Beim ersten Auftritt war die Nervosität gross, aber es ging gut. Es fühlte sich wunderbar an, Teil dieses Klangkörpers zu sein. Es klang nie perfekt, aber immer besser. Und es machte Spass. Und es tat einfach gut zu singen. Eine wunderbare Erfahrung, die ich machen durfte, weil ich die Warnungen meines Verstandes überging und etwas ausprobierte, das ich „eigentlich nicht kann“.

Diese Geschichte kam mir in den Sinn, als ich den Text über den Verstand las, der uns in unserem Potential einschränkt, weil er uns alle möglichen Dinge über uns einflüstert.  Wir machen uns unnötig klein, halten am Vertrauten und an unseren Vorurteilen (sogar über uns selbst) fest, weil wir Angst haben zu versagen, etwas nicht zu können oder uns zu blamieren.

Ach ja, malen kann ich übrigens auch nicht. Auch davon war ich ziemlich überzeugt. Und das hat mich nicht gehindert, einmal bei meiner Lehrerin Katharina eine Kurswoche in Tuschmalen und Zen-Meditation zu besuchen. Sie fragte mich an, und mir passte es zeitlich gerade. Und ich dachte: ich habe noch nie gemalt, noch nie Zen-Meditation gemacht – also los! Und ich war wirklich überrascht, wie gut mir das Tuschmalen gefiel. Ich habe es danach nicht in meinen Alltag integrieren können, aber einige Bilder habe ich eingerahmt und zu Hause aufgehängt. Sie erinnern mich daran, dass man Dinge schafft, von denen der Verstand einen überzeugen will, dass man es nicht kann. Es ist eine grosse Bereicherung für uns, wenn wir diese uns selbst gesetzten Grenzen immer wieder überschreiten.  Du kannst etwas nicht? Glaub nicht daran und tue es einfach! Du wirst staunen…

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