Angesichts des Elends und des Leids in der Welt könnte ein mitfühlender Mensch verzweifeln. Als ich neulich mit meiner Partnerin durch Wien spazierte, brachte sie es fast nicht übers Herz an bettelnden Menschen vorbeizugehen. Ich „wusste“, dass Betteln in Grossstädten oft professionell organisiert ist und dass man mit einer milden Gabe eher dieses System unterstützt als tatsächlich einem Menschen hilft. Oder ich glaubte es zu wissen, denn ich habe mit keinem dieser Menschen gesprochen. Meine Partnerin ist dann zu einer bettelnden Frau zurückgekehrt und hat ihr etwas Geld gegeben. Als wir am nächsten Tag wieder durch diese Gasse gingen, lächelte die Bettlerin meine Partnerin an. Sie freute sich über die milde Gabe vom Vortag. Es war offenbar richtig gewesen, dem Impuls zu folgen.
Wir haben dann darüber diskutiert, was man denn tun kann, um dem Leid und der Not zu begegnen, gerade auch von Flüchtlingen. Aus der spirituellen Praxis ist mir klar, dass wir alles, was wir für uns tun für alle tun und alles, was wir für andere tun, auch für uns tun. Das klingt vielleicht etwas nach Rechtfertigung für egoistisches Tun, ist es aber nicht. Es geht darum, dass ich mit mir im Frieden sein muss, um friedlich leben zu können, dass ich mich lieben muss, um andere lieben zu können. Erst wenn ich mit mir im Reinen bin, ist das Resultat meiner Handlungen rein.
Etwas anderes scheint mir auch noch wichtig: wir können nicht alles Leid der Welt aufheben, aber wir können genau dort, wo wir sind, durch Liebe und Achtsamkeit Freude teilen. Wenn mein Handeln von diesen edlen Absichten geleitet ist, leiste ich einen Beitrag zu einer besseren Welt. Und dazu habe ich jeden Tag, jede Stunde, ja jede Sekunde Gelegenheit. Es ist also nicht so entscheidend, ob ich mich für den Weltfrieden aktiv einsetze oder ob ich mein Gegenüber mit Respekt und Liebe begegne. Oder ob ich mich um eine Pflanze oder ein Tier liebevoll kümmere.
Diese kleinen Handlungen sind Ausdruck einer Haltung, die sich mit allem verbunden fühlt. Und auch wenn man im kleinen beginnt, wenn man sich einfach um das kümmert, was in diesem Moment geschieht, was einem das Leben in diesem Augenblick präsentiert. Und so ist es dann auch möglich, ausgehend vom ganz Kleinen das ganz Grosse zu erreichen.
Bei Jack Kornfield (Das weise Herz) habe ich über das buddhistische Prinzip des Bodhisattva gelesen:
„Der Begriff Bodhisattva kommt aus dem Sanskrit und bezeichnet ein Wesen, das sich dem Erwachen widmet und zum Wohle aller lebenden Wesen tätig wird. […] Der Dalai Lama rezitiert die Bodhisattvagelübde, die uns der indische Weise Shantideva hinterlassen hat:
Möge ich ein Schützer sein für alle, die Schutz benötigen,
ein Führer für alle, die auf dem Weg sind,
ein Boot, ein Floß, eine Brücke für alle, welche die Wasser überqueren wollen.Möge ich eine Lampe in der Dunkelheit sein,
ein Ruheplatz für die Geschwächten,
heilsame Arznei für jene, die ihrer bedürfen.Möge ich Füllhorn sein und Wunderbaum.
Möge ich der grenzenlosen Vielfalt aller lebenden Wesen Unterhalt und Befreiung bringen,
unerschütterlich wie Himmel und Erde,
bis alle Wesen frei sind von Leid und Erleuchtung gefunden haben.“
Jack Kornfield, Das weise Herz S.497 (Kindle Edition)
Ein Gedanke zu “Im Kleinen wirken”